Gute Kinder
Andrea Heinisch: "Gute Kinder" | Arten der Unbehaustheit, 15.09. | Ö1 | ORF-Radiothek
Rezension Gute Kinder von Gerhard Hintringer
Voriges Jahr hat uns Andrea Heinisch mit dem Roman der schwer übergewichtigen Henriette erfreut, in deren Welt eine Margeritenblüte in ihrer Herzkammer wuchs. »Henriette lächelt« war ein fulminanter Auftakt.
Heuer legte sie mit dem lyrischen Roman »Gute Kinder« nach. Beide Titel sind bei Picus erschienen.
Die Besonderheit: Gleichzeitig bringt das Theater Arche (früher Brett) in der Münzwardeingasse eine Bühnenfassung.
Um eines gleich vorwegzunehmen, es ist ein großartiges Buch, ein berührender Text, aber keine leichte Kost.
In 55 Episoden werden wir von der mehr als unzuverlässigen Ich-Erzählerin, Inge Heiligstetter, in ihren Alltag in einem Pflegeheim eingeführt.
Beiläufig ist zu erfahren, dass sie ihre Küche angezündet hat, vorsätzlich oder aus Unachtsamkeit, wer weiß, eher absichtlich. Helene, ihre Tochter, von der wir so nebenbei erfahren, dass sie ein Kuckuckskind ist, besucht sie regelmäßig.
Präsenter aber sind ihr der verstorbene Mann Herbert, das nicht geborene Kind Lukas und der Pfleger Manfred, Manni für seine Freunde und für Inge. Inge ist offensichtlich hochgradig dement, oder ist das ein Spiel?
Jedenfalls liegen da ein paar dunkle Geheimnisse in der Vergangenheit, an ihrem Arbeitsplatz bei Import-Export, in der Ehe. »Die Stille sitzt in jedem Handgriff« heißt es gleich im ersten Satz. Die Stille des Vergessens, des Verdrängens? Dementen kommt ja zunächst die Welt abhanden, dann kommen sie der Welt abhanden.
In Inges Phantasiewelt ist die erwachsene Tochter, der der Mann ihrer beiden Kinder abhanden gekommen ist, das ewige Kind, während sie selbst in großen Schritten diesem Zustand zustrebt. Vorsicht ist geboten, »die hängen einem hier sofort eine Diagnose an.«
Ihr Verbündeter im Heim ist der Zivildiener Manni, der sich rührend um die Patientin kümmert, die weder in Zeit noch Raum orientiert ist. Er erweist ihr auch als junger Medizinstudent die Treue. Sie nennt ihn schon einmal auch Tom.
»Helene, sage ich. Ich sage es schweigend. Helene, du bist ein gutes Kind, sage ich. Nur hör mit dem Lügen auf.« Was gesagt werden kann, kann auch kurz gesagt werden. Eine kurze Textprobe, die nicht das Phänomen der Projektion zeigen will, sondern den Sprachduktus, gewürzt mit lieblichen, gewitzten, ironischen bis gewagten Sprachbildern.
Der gesamte Romantext ist unterlegt mit kurzen bis relativ langen kursiven Passagen, manche in Gedichtform. Hier ändert sich der Rhythmus, die Melodie, der Satzbau, die Texte folgen der Logik. Ist es der Inhalt von Inges Stapel Hefte, in die auch andere Akteure eintragen?
Wie gesagt, kein Text, – mit 190 Seiten von handlichem Umfang – den man schnell zwischendurch konsumiert. Ich habe Tage gebraucht.
Empfehlung!
Zu Henriette lächelt
"...
Henriette lächelt ist ein Roman, in dem alles flirrend ist, alles unerträglich leicht und unerträglich schwer gleichzeitig, in dem Traum und Wirklichkeit ineinander fließen, in dem Margeriten in Herzen wachsen, alle Leibesfülle schwerelos wird, verfasst in makellosem Stil."
© Peter Stephan Cremer, Gottschalks Buchhandlung Leverkusen, Juli 2023
Andrea Heinisch gelingt es blendend in ihrem Buch "Henriette lächelt" das Innenleben der dicken Henriette zu beschreiben, die von ihrer Mutter bevormundet wird. Das allerdings auch lange nach ihrem Tod. Denn die Dialoge mit ihrer Mutter hat die Henriette die Buchhalterin so sehr verinnerlicht, dass sie immer weitergehen. Selbst ihre Mutter fühlt sie immer in ihrer Nähe.
Corona mit dem Lockdown ist für die Protagonistin der Hauptgewinn, den sie genießt. Sie kann in ihren Zoom Konferenzen mit iihrem Arbeitskollegen sprechen.
Die reiche Innenwelt von Henriette sowie ihre Probleme im Alltag sowie im Familienleben sind überzeugend, berührend und mit sanftem Humor dargestellt
Die kleinen Schritte zu mehr Selbstständigkeit und mehr sozialem Miteinander sind realistisch und sympathisch dargestellt. Henriette findet zu ihrem Lächeln und zu ihrem inneren Gleichgewicht mit den vielen Fehlversuchen und überraschenden Fortschritten, wie sie nur das Leben schreiben kann.
Die Sprache ist von einem schlichten Niveau und kann unterschiedliche Sprachebenen und Stile erzähltechnisch gekonnt einsetzen.
Besonders spannend ist, dass die Lesenden nie wissen, wann sich Begebenheiten in der Wirklichkeit oder in der Phantasie von Henriette abspielen.
Ihre Antagonisten mit ihren gesundheitlichen und familiären Problemen sind authentisch und kontrapunktisch zu den Erinnerungen und Erzählungen der Protagonistin gesetzt und entsprechen doch ihrer jeweiligen Lebenssituation.
Liebe blüht im Herzen von Henriette wie eine Margarite, die leitmotivisch für ihr Sehnen nach menschlicher Wärme wird. Mit Vater und Sohn, die in die Wohnung ihrer verstorbenen Mutter ziehen, eröffnen sich neue soziale Kontakte.
Auf einmal ist das Leben reicher.
Dieses Buch eröffnet sich für Leser und Leserinnen, welche die stille und in sich gekehrte Erzählweise einer Frau mögen, die in ihrer kleinen Welt ihren Weg findet. Es ist für Menschen, die einen reichen inneren Monolog mögen und die an psycologischen Facetten einer reichen Seele interessiert sind. Keine großen Abenteuer und Schritte bewegen mich zum Weiterlesen, sondern dieser stille Alltag, der mit so viel innerem Anstand bewältigt wird. Einfach gut für Menschen, die in ihrem Alltag bestätigt werden wollen.
(Mag.Heike Lohr)
Mit knapp 200 Kilogramm Körpergewicht ist jeder alltägliche Handgriff im Haushalt eine Herausforderung für die alleinlebende Henriette. Seit der Pandemie verlässt sie ihre Wohnung in Wien kaum noch, arbeitet ausschließlich im Home-Office und bestellt Lebensmittel per Lieferdienst. Zwischenmenschliche Kontakte pflegt sie keine mehr, sondern hat nur die Stimme ihrer Mutter als Gesellschaft, die ihre Enttäuschung über Henriettes Körpergewicht und ihre Unfähigkeit, ihre Ernährungsgewohnheiten zu ändern, beständig zum Ausdruck bringt. Dann jedoch setzt ihr Arbeitgeber regelmäßige Videokonferenzen mit ihrem Kollegen Martin an, Henriettes heimlichem Schwarm. Außerdem fasst sich Henriette ein Herz und bietet ihrer Nachbarin einen Nebenjob als Haushaltshilfe an. - Ein beeindruckendes Buch, das tief in Henriettes Welt einlädt und sowohl die physischen Herausforderungen eines gewissen Körpergewichts als auch allzu verbreitete Gefühle wie Scham und Selbsthass schonungslos darlegt. Mit Henriettes zögerlichem, schrittweisen Weg aus der Selbstisolation offenbaren sich auch der Leserschaft immer weitere Einblicke in ihre Geschichte. Ein wichtiges Thema, sehr zu empfehlen.
Marlene Knörr, BV, Henriette lächelt (borromaeusverein.de)
Ich hatte bereits Gelegenheit, ihn zu lesen und mich auf das Angenehmste überraschen zu lassen.
„Wenn die anderen Frauen über ihre Figur reden, schweigt Henriette, weil sie nicht mitreden kann. Henriette hat keine Figur.“ Henriette hat 190 Kilo, nur ihre Finger sind schlank, Pianistinnenfinger. Henriette ist Buchhalterin im Homeoffice.
„Jeden Morgen beschließt Henriette abzunehmen“, Strategien werden erprobt, die geheimen Vorräte sind in geheimen Fächern, geheimen Laden versteckt, der Lieferdienst liefert prompt. Henriette hat drei. Und Henriette hat eine Mutter im Genick, von der sie sich nicht zu
emanzipieren weiß. Die Mutter liegt zwar am Friedhof, ist aber allgegenwärtig.
„Henriette hat so schwer an sich zu tragen, dass sie nicht auch noch Verantwortung tragen kann.“
Henriette hatte nicht immer 190 Kilo —Tendenz steigend. Als sie noch U-80 war, hat sie sich wahllos Liebhaber mitgenommen. Die Psychologie, die im Text steckt, ist feiner ziseliert, als ich
es gerade darstelle. Es gibt noch eine Freundin im Haus, einen Arbeitskollegen, den Lieferservice, Margeritenblüten in der Herzkammer, …
Sehr angetan war ich von der Sprache, exakt abgezirkelt, jedes Wort an seinem Platz, kein Wort zu viel, kein Wort zu wenig, große Poesie.
„Henriette lächelt. Es sind Platanen.“ so endet der Roman, möge der Leser die Leserin gleichfalls lächeln, feine Ironie beinhaltet das Buch ausreichend. Warum es Platanen sind, die
Henriette lächeln machen, da müsst ihr selber draufkommen.
(Gerhard Hintringer, Sept. 2023)
Die Geschichte zeichnet auf, was Henriette durch den Kopf geht, während sie durch ihr Leben geht. Ein Leben, das von ihrer Körperlichkeit geprägt ist. Und von einem Margeritenherz. Und von zwei Mägen. Und von ihrem Willen, sich klar zu werden. Die Episoden ihres Leben werden ganz konkret erzählt, also so, dass es erlebbar wird. Ich möchte mehr über Henriette wissen. Tiefer in sie eintauchen.
Besonders gefällt mir das Band, das zwischen Henriette und Sonja, einer zunächst schwangeren Nachbarin geknüpft wird. Diese Begegnung, in der Henriette unter Aufbringung all ihres Willens "alles richtig" macht, bringt Henriette um den so wichtigen Millimeter aus ihrer Situation heraus. Am Ende des Tages sind es zwei Frauen und ein kleines Kind - Margarete. Und an diesem Punkt geht für mich diese Geschichte über Henriettes Körperlichkeit hinaus, sie ist auch eine Geschichte über Verletzlichkeit, Mut und Entschlossenheit.
Das Buch lässt mich mit dem Gefühl zurück, dass Entschlossenheit und eine Margarite im Herz ein Anfang sein kann. Und dass es vielleicht viel mehr Henriettes gibt, als man so meinen möchte. Auch, wenn man die anderen Henrietten auf den ersten Blick nicht erkennt.
(Beate Glück, Sept 2023)